Wer ist Lukas Hartmann?

Da gucke ich vertrauensvoll in die Zukunft, glaube aber noch an den Storch.

Am 29. August 1944 kam ich in Bern auf die Welt. Meine Mutter war eine Bauerntochter, mein Vater ein Schuhmachersohn. Als ich, vier Jahre später, meinen kleinen Bruder zum ersten Mal in der Wiege sah, fand ich, er sei total verrunzelt und wollte ihn dem Storch zurückgeben, der ihn doch gebracht hatte. Aus Protest leerte ich mehrmals den Aschekasten auf dem Teppich aus. Ein anderes Mal schob ich meinen Kopf zwischen dem Balkongeländer durch, blieb stecken und schrie wie am Spiess. Aber es nützte nichts, ich musste die Mutter von nun an mit dem Bruder teilen, und sie erzählte uns beiden die Märchen der Brüder Grimm, die ich nie mehr vergessen habe. Wir gingen oft durch einen grossen Wald, um zum Bauernhof meines Grossvaters zu kommen, und manchmal hatte ich Angst, irgendwo würden wir auf das Hexenhaus stossen, das auch Hänsel und Gretel gefunden hatten. Beim Grossvater fütterte ich die Hühner, knetete Brotteig und sass zuoberst auf dem Heuwagen. Sogar mit der Sense mähen lernte ich (das tue ich heute noch in unserem Garten).  Als sein Pachthof verkauft wurde, empfand ich dies - ich war gerade neun - als das traurigste Ereignis meines Lebens. Die Bücher waren von nun an meine Zuflucht. In ihnen entdeckte ich dauernd neue und abenteuerliche Welten. Mit Jules Verne gelangte ich zum Mittelpunkt der Erde. Mit Charles Dickens und seinem Oliver Twist durchstreifte ich London und wurde zum Taschendieb. Mit Karl Mays Helden teilte ich Niederlagen und Siege.

 

Da möchte ich am liebsten in den Wilden Westen auswandern und gegen alle Bleichgesichter kämpfen.

Daneben zeichnete und malte ich gerne, ich interessierte mich früh für Kunst und Kunstgeschichte. Aus Kunstbänden kopierte ich mit Wasser-, später mit Ölfarben die Bilder, die mir am besten gefielen. Auch die Musik gefiel mir; ich lernte Geige spielen, zuerst mit Widerwillen, dann mit immer grösserer Leidenschaft. Später kam noch das Klavier dazu.

 

Ich war wohl ein eigenbrötlerisches Kind. In der Schule hatte ich zum Glück gute Noten. Sobald ich jeweils herausgefunden hatte, wie es die Lehrer haben wollten, schrieb ich die besten Aufsätze. Im Sport war ich auch nicht schlecht, vor allem Weitsprung und Ballspiele mochte ich. Deshalb wurde ich weniger verspottet und geplagt als andere, die auch als Aussenseiter galten.

 

In der sechsten Klasse schrieb ich heimlich meine erste Geschichte in ein blaues Schulheft. Sie handelte von einem Schiffsuntergang und einem Passagier, der sich auf eine Insel rettete. Ich habe da wohl den Robinson Crusoe nacherzählt, aber ich wollte herausfinden, ob ich es durchhalte, ein ganzes Heft voll zu schreiben, und es war immerhin mein erster schriftstellerischer Versuch. Immer stärker setzte sich in mir der Wunsch fest, Schriftsteller zu werden. Dafür gibt es aber keine wirklich Ausbildung; du musst dir im Grunde genommen das Wichtigste selbst beibringen, von Vorbildern und aus Kritik lernen.

 

Da sitze ich mit meinem kleinen Bruder und weiss nicht recht, ob ich ihn kneifen oder beschützen soll.

Jedenfalls fanden meine Eltern, ich müsse zuerst etwas Solides lernen, und so wurde ich Lehrer. Zuerst unterrichtete ich an einer „Gesamtschule“, wie es in der Schweiz heisst. Das heisst sämtliche Schulkinder von der ersten bis zur neunten Klasse sassen in einem Schulzimmer. Siebenunddreissig waren es, und ich wusste manchmal nicht, wo mir der Kopf stand.  Da hatte ich überhaupt keine Freizeit mehr. Als ich eine fünfte und sechste Klasse auf dem Land übernahm, konnte ich abends schreiben. Nach einem Jahr hatte ich meinen ersten Roman geschrieben und war sehr stolz darauf. Aber kein Verlag wollte mein Manuskript drucken; immer wieder wurde es zurückgeschickt, und ich war so enttäuscht, dass ich beschloss, lieber weiter zu studieren, als zu schreiben. So wurde ich Sekundarlehrer und unterrichtete später auch am Gymnasium. Das Schreiben konnte ich aber nicht lassen. Mit meinem zweiten Romanmanuskript erging es mir gleich wie mit dem ersten; es landete im Papierkorb. Erst als ich beinahe dreissig war, fand ich endlich einen Verlag, und noch länger dauerte es, bis sich der Erfolg einstellte. Nachdem ich eine Zeit lang Psychologie studiert hatte, leitete ich eine Jugendberatungsstelle. Ich hatte mit den ersten Drogensüchtigen in der Schweiz zu tun, und das rüttelte mich unheimlich durch. Dann arbeitete ich während sieben Jahren am Radio als Sendungsgestalter und Moderator, schrieb Hörspiele und Drehbücher fürs Fernsehen. Ich schrieb zuerst nur für Erwachsene, denn ich dachte, mir fehle die Phantasie, für Kinder zu schreiben.



Da stehe ich, als sechzehnjähriger Konfirmand zwischen meinen Eltern und bin schon ganz ernst und steif geworden. Das hat sich später wieder gelockert.

Da hatte ich mich gründlich getäuscht. Meine eigenen Kinder belehrten mich eines Besseren. Sie wollten abends Geschichten von mir, am liebsten Fortsetzungsgeschichten. Also fabulierte ich drauflos und merkte, was für einen Spass es uns allen machte, die verrücktesten Einfälle aufzunehmen und weiterzuspinnen. Für meine älteste Tochter Anna erfand ich eine Zwillingsschwester, weil sie sich die so sehnlich wünschte, und daraus wurde mein erstes Kinderbuch, „Anna annA“. Für Seraina, die sich eine Geschichte mit einem dicken König, einem schüchternen Prinzen und einem wilden Mädchen wünschte, erfand ich „Die wilde Sophie“.  Für Jonas, den Jüngsten, machte ich aus den drei Wörtern Insel, Randensaft und lange Nase eine Zaubergeschichte, „So eine lange Nase“. Ich merkte, dass es mir half, nach einem Buch für Erwachsene eines für Kinder zu schreiben (und umgekehrt). Das hält mich im Gleichgewicht, und seit vielen Jahren mache ich es nun so. Weil meine Bücher sich immer besser verkauften, stellte ich eines Tages mit Erstaunen fest, dass ich davon nun leben konnte. Und seither bin ich freier Schriftsteller. Wobei ich auch die Einnahmen für Lesungen, Übersetzungen Filmrechte usw. brauche, sonst würde es nicht reichen.

 

Da bin ich, mit dreiundreissig, ein halber Hippie, trinke aber Apfelsaft.

Meine Kinder sind inzwischen erwachsen. Ich lebe heute mit meiner Frau in einem angebauten Einfamilienhaus am Hang des Berner Hausbergs (er heisst Gurten). Wir erfreuen uns an einem grossen Garten mit Obstbäumen und vielen Vögeln, die hier nisten.
Meine Frau kennt man in der Schweiz besser als mich. Sie heisst Simonetta Sommaruga und wurde Ende 2010 in die schweizerische Landesregierung gewählt. Sie ist nun Bundesrätin und Justizministerin. In ihrem Amt beschäftigt sie sich mit schwierigen Problemen, z. B. der Asylfrage, der Sterbehilfe, dem Sorgerecht für Eltern, und sie muss herausfinden, mit was für Gesetzen sich solche Probleme am besten regeln lassen. Normalerweise dauert ihr Arbeitstag nun zehn bis fünfzehn Stunden oder noch länger. Weil sie so beschäftigt ist und ich zu Hause arbeite, bleibt natürlich vieles, was mit dem Haushalt zu tun hat, an mir hängen. Aber beim Putzen und Bügeln kommen mir oft die besten Ideen!