Der Konvoi
Roman, 1997
ISBN 978-3-257-24194-5
€ (D) 9.90 / (A) 10.20
sFr 14.90*
* unverb. Preisempfehlung
Kurzbeschreibung:
November 1918. Der Schweizer Bundesrat hat aus Angst vor Agitation beschlossen, die Mitglieder der diplomatischen Vertretung der jungen Sowjetunion in Bern auszuweisen. Ein eilig zusammengestellter Konvoi wird unter strenger militärischer Bewachung zur Landesgrenze geleitet. Einer der Bewacher ist der junge Soldat Samuel Brüllhart. Die Russen betrachtet er als Feinde. Und dennoch: Aller politischer Überzeugung zum Trotz, verliebt er sich in die junge selbstbewußte Russin Helene, die so ganz anders ist als alle Frauen, die er bisher kannte. Der Roman, eine Mischung aus Fiktion und historischen Fakten, erzählt von einer unmöglichen Liebe, von verratenen Hoffnungen und zerstörten Idealen.
Pressestimmen:
„Hartmanns bisher bestes Buch.“
Facts
„Lukas Hartmann hat eine neue, absolut souveräne Qualität seines Schreibens erreicht.“
Der Bund
„Eine ausgefallene Liebesgeschichte, die den Leser in ihren Bann zieht, und bisher fast unbekannte Zeitgeschichte, vom Autor blendend recherchiert, sind in diesem Roman subtil ineinander verwoben.“
Hannoversche Allgemeine
„Die unheimliche Zwangsläufigkeit, mit der die Schicksale seiner Figuren vorgegeben scheinen, stellt Hartmann mit der unspektakulären Virtuosität des Könners dar.“
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Zuckerwerk und Zeigefinger
Lukas Hartmanns Roman "Der Konvoi"
«Was sollt' ich machen (. . .), wenn Hunger, böse Seuch' und ihre Nöten Freund, Freund und Feind ins Grab versammleten?» fragt Matthias Claudius im «Kriegslied». Hunger, böse Seuch' und Tod von Freund und Feind drohen 1918 für einmal auch der Schweiz: Der Generalstreik spaltet das Land; allein die spanische Grippe hat alles im (tödlichen) Griff. Vier ver-rückte Tage in jenem November, der Europa den befristeten Frieden beschert, der Schweiz aber einen bitteren Vorgeschmack von Blut und Tränen, stellen den Freiburger Füsilier Samuel Brühlhart vor unbequeme, Claudiussche Fragen..
Der von Kindheit an zum Kadavergehorsam gedrillte und verführte Befehlsempfänger Brühlhart ist die jüngste Hauptfigur in einem Berner Reigen: Lukas Hartmann, Hans-Rudolf Lehmann bürgerlich, hat seiner Heimat mit einer Romantrilogie ein – keineswegs verklärendes – Denkmal gesetzt. Da bricht «die Seuche» (1992), die Pest, das feste mittelalterliche Gesellschaftsgefüge im Bernbiet auf. Da träumt ein misshandeltes Mischlingskind, der illegitime Sohn eines Berner Patriziers und einer «Mohrin» (1995), von seiner Flucht ins prärevolutionäre Frankreich, ins sklavenfreie England. Für unser Jahrhundert wählt der Autor einen unfreiwilligen Füsilier und unbefriedigten Dorfschullehrer als Repräsentanten und Opfer einer schwierigen Schweiz; Brühlhart hat die auszuschaffende sowjetische Gesandtschaft – den Sündenbock und vermeintlichen «Drahtzieher» der proletarischen Unbotmässigkeit – vom 12. bis zum 15. November zu eskortieren und, siehe da, auf dieser Reise entpuppen sich die «Feinde» als Menschen, gewinnen ihre Argumente für die Arbeiterbewegung an Gewicht.
Hartmanns Reisetagebuch «Der Konvoi» rollt des kleinen Soldaten stürmische Fahrt von Bern an den Bodensee als seelischen Dschungeltrip auf: Dicht gedrängt sitzen sie im beschlagnahmten Wagen, der Fahrer, der Bewacher und das «Bolschewistenpack». Eng, zu eng, müssen der kranke Leiter der russischen Mission, seine Frau, seine quengelnde Tochter und deren elegante Lehrerin Hélène zusammenrücken – man tauscht die Plätze, kommt sich näher. Das grossstädtische Raffinement der jungen Russin, der schönen Helena, betören den unbeholfenen Dorfschullehrer mit der «Arme-Leute-Kindheit». Sie weckt im bereits verlobten Samuel sofort Beschützerinstinkte, bald brennendes Begehren und – nach kurzem Zaudern – besinnungslose Hingabe. «Wir könnten anderswo neu anfangen, unter falschem Namen», lockt er die Revolutionärin nach dem Transport, den technische Zwischenfälle einerseits und verstohlene Zärtlichkeit andererseits in eine labyrinthische Suche nach dem geographischen, politischen und emotionalen Grenzübergang verwandelt haben. Doch Hélène wird – Hartmann sei Dank – ihren romantischen Helden enttäuschen.
«In erster Linie möchte ich eine emotional packende Geschichte erzählen», bekennt der Autor; doch zugleich fordert er jene Genauigkeit, die «den Blick schärft für Machtmissbrauch und Lieblosigkeit in unsern schweizerischen Verhältnissen». Zuckerwerk und Zeigefinger also – eine Zusammenstellung, die auch hier nicht allzu zimperlich daherkommt: als grosse Liebe auf den ersten Blick vor einer etwas verschwommenen historischen Kulisse. Diese zeigt uns zwar die bürgerliche Bolschewikenfresserei, die Gleichgültigkeit der militärischen Maschine gegenüber dem Einzelnen, den Grippetod; aber der friedliche Ausstand der Viertelmillion Arbeitnehmer, das Säbelrasseln fast eines Drittels der Schweizer Armee bleibt bedauerlicherweise ein beinahe blinder Fleck im Bewusstsein unseres doch arg naiven Füsiliers, auf den sich die Erzählperspektive beschränkt. Vom Schrecken, vom Hunger, von der Not ist allzu viel nicht zu spüren. Im Vordergrund steht eine – als Motto vorausgeschickte – zeitlose «Botschaft»: Weder ist die Liebe für Weltflüchtige noch die Welt für Liebesparanoiker da.
Dass der Roman trotzdem leicht und nicht ohne Anteilnahme zu lesen ist, liegt am handwerklichen Können des Erzählers Hartmann, der die verschiedenen Tempora geschickt einzusetzen weiss, um Unmittelbarkeit zu suggerieren; es liegt an seiner Technik, den simplen Seminarstil Samuels für eingängige Bilder und evokative Szenen zu nutzen; und schliesslich an seiner Fähigkeit, hinter der Attitüde der Einfachheit Komplexität und Humor hervorblitzen zu lassen. So geht der Leser gern mit dem «Konvoi» auf die Reise.
Neue Zürcher Zeitung, Alexandra M. Kedveš