Die Mohrin

Roman, 1995, Nagel & Kimche (als Taschenbuch bei Fischer), 271 Seiten, Hardcover, Pappband SU, 19,90 Euro (D) / 20,50 Euro (A) / 36,00 SFR, ISBN 3-312-00208-7

Kurzbeschreibung:
Wie Hartmanns Roman "Die Seuche" ein Buch, das in der Vergangenheit spielt und die Gegenwart meint. Mit den Augen des Kindes, das noch in einer Welt der Geheimnisse lebt, erzählt es die Geschichte der Mohrin, die, 1763 in der Karibik freigekauft, als heimliche Maitresse auf einem Patriziersitz lebt. Louis liebt die Stunden, in denen ihm die Mutter in der Dachkammer Geschichten erzählt, vom afrikanischen Guinea und vom Leben der Sklaven auf Saint-Domingue. Später erfährt er, daß der Hausherr sein Vater ist, und er leidet darunter, daß dieser ihn ignoriert. Dicht und intensiv, ein Text voller Bezüge. Es fällt schwer, sich seiner Sogkraft zu entziehen.

Pressestimmen:

„Der Schweizer Hauptmann von Wyssenbach kehrt nach Beendigung seiner Militärzeit von der Insel Saint-Domingue auf seinen Herrensitz in der Nähe von Bern zurück. Im Gepäck: Trophäen, Erinnerungen und eine freigekaufte Sklavin, die Mohrin. Verschiebt man die historischen Kulissen, tauchen die ewig gleichen Gefühle auf: Menschen als Gefangene ihrer Wünsche. Aber auch das Räderwerk von Macht und Einfluss dreht sich unverändert; Lukas Hartmann muss das nicht schreiben, es liest sich mit. ‘Die Mohrin’ erweist sich als Hartmanns überzeugendstes Werk.“
Die Zeit

„Lukas Hartmann erzählt mit einer Intensität, die die Szenen lebendig macht, die Bilder leuchten lässt. Man sieht beim Lesen schon einen Film - nur lässt das Buch auch dem Nachdenken seinen Raum.“
Luzerner Neueste Nachrichten

Geschichte der Haut
Lukas Hartmanns Roman «Die Mohrin»

Wohin gehört dieser Knabe Louis im Traum? Zu den Sklaven, die auf der Überfahrt nach Europa in Ketten liegen, oder ist er der Kapitän, der sie tanzen lässt? Und nun gar erst in der Wirklichkeit: Sollte er sich, als Sohn des Hausherrn, nicht ungezwungen im Schloss bewegen können? Aber er wird zu den Dienstboten gewiesen, obwohl er nicht einer der Ihrigen ist. Demütigungen erfährt er von den Bewohnern des ländlichen Herrensitzes im Alten Bern, denn er ist der Sohn der Mohrin, einer Sklavin aus Westindien, die der Herr von Wyssenbach, als Offizier im Sold des französischen Königs stehend, einst in Westindien freigekauft und in die Heimat mitgenommen hat.

Goldene Ketten
Mit ihr, der schönen Marguerite aus Saint-Domingue, verbindet ihn noch immer ein Liebesverhältnis, aber dieses kann auf dem Schloss nur im Verborgenen fortgesetzt werden, denn Wyssenbach ist nach den Regeln des Standes verheiratet worden, und er trachtet nach Ämtern und Würden wie alle seinesgleichen. Eine öffentliche Verbindung mit der Mohrin wäre nicht nur eine Mesalliance, sondern ein Hindernis für die Karriere in der Gesellschaft des Ancien Régime.Obwohl er sich als echter Feudalherr gebärdet und Beaumarchais' Graf Almaviva in nichts nachsteht, ist er ein Gefangener, dem man die goldenen Fesseln der Konvention angelegt hat. Und erst recht sind Marguerite und Louis Gefangene; denn die Mohrin, welche nie den erforderlichen Freibrief erhalten hat, wird weiterhin als Sklavin gehalten und gegen den Schluss ihres Lebens im Zimmer eingesperrt – einzig Louis vermag zu fliehen. Aber was ist dies für eine Freiheit, die sich ihm am Ende des Romans eröffnet, diese traurige Offenheit auf ein Leben hin, das dem mutterlosen Kind kaum je Geborgenheit und menschliche Würde geben wird? Denn die dunkle Haut bleibt haften, und nie wird unter ihr eine «bessere», hellere zum Vorschein kommen.Lukas Hartmanns Roman «Die Mohrin» ist vorerst eine Geschichte der Haut. Der Haut als einer physischen Determinante, die über Schicksal und Stellung entscheidet, ohne dass einer dagegen am Vorabend der Französischen Revolution ankommen kann. Gleichwohl wittert man Morgenröte, wenn der protestantische Vikar zusammen mit Marguerite und Louis über Frankreich nach London zu fliehen versucht, wo sich ein Verein von «Menschenfreunden» gebildet hat, um den Unterdrückten zu einer Stimme zu verhelfen. Aber der Aufstand glückt vorerst nur im Spiel, wenn Louis auf einem Rindenstück die Sklaven über den kleinen See in der Nähe des Schlosses treiben lässt.

Entwurzelung
In der Realität holt ein eifersüchtiger Schlossherr mit hochbezahlten Agenten mühelos die Flüchtigen ein. «Die Mohrin» ist daher das Buch der Versklavungen: eine Geschichte der Entwürdigung und fortdauernden Verletzung der Menschenrechte.
Zu dieser Dimension von Lukas Hartmanns Roman fügt sich zwingend eine seelische: jene der Entwurzelung. Alles hat man der Mohrin genommen – Heimat, Sprache, Eltern und ihre Selbstbestimmung als weibliches Subjekt. Die angestammte Religion wollte man ihr austreiben, sie zum westeuropäischen Verhaltenskodex zwingen. Nach aussen hin scheitert sie, beschliesst elend ihr Leben. Aber in ihrem Tod steckt dennoch der Zündstoff der Siegerin, einige Jahre vor 1789, denn der Schlossherr bleibt als Verzweifelter zurück. In diesem Ausgang liegt das Paradox der siegreichen Niederlage, und Lukas Hartmann stellt sich solcher Tragik unumwunden. Sein Roman reicht daher letztlich über ein Sittengemälde des Alten Bern weit hinaus, ist ein Epos über die unantastbare Würde des Menschen. Diese Geschichte der Ungerechtigkeiten erzählt der Autor dennoch mit jener Leichtigkeit, die sich nach mannigfachen Prüfungen als Glücksfall einstellen mag. Wie zwischen Traum und Tag angesiedelt erscheinen manche Sequenzen von magischem Weltempfinden bestimmt. In den präzis evozierten Naturstimmungen etwa scheint eine Poesie durch, die man in der zeitgenössischen Literatur nur noch selten vorfindet; in der Beziehung zwischen Marguerite und Louis wohnt eine Innigkeit, die man sonst dem weiblichen Empfinden zuordnet. So lebt dieser Roman von einer atmosphärischen Gestimmtheit, der sich der Leser vorbehaltlos ausliefern darf.

Neue Zürcher Zeitung
Beatrice Eichmann-Leutenegger